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Tagungsbericht: „Mit zweierlei Maß? Wie ableistische Strukturen unseren Blick auf Behinderung prägen“

    Ausschnitt des Brandenburger Tors in Berlin

    Wir haben im November die Jahrestagung 2024 des deutschen Netzwerks gegen Selektion durch Pränataldiagnostik und des Bündnisses #NoNIPT in Berlin besucht. Teilnehmende aus verschiedensten Bereichen, wie Medizin, Genetik, Elternbewegung, Behindertenbewegung, Gynäkologie und Geburtshilfe, psychosozialer Beratung und Philosophie haben sich mit den Wurzeln von Ableismus und Selektion beschäftigt. Im Mittelpunkt der Tagung stand die Frage nach den gesellschaftlichen Strukturen, die ableistische Narrative wie „Behinderung als Unglück und Leid, daher zu vermeiden“ und selektive Pränatale Tests befördern. Im Rahmen der Netzwerktagungen wird Pränataldiagnostik (PND) seit vielen Jahren aus feministischer und anti-ableistischer Perspektive diskutiert.

    Hintergrund und Kritikpunkte des Netzwerks

    Hintergrund des Bündnisses und aktuelle Diskussion: der NIPT, ein Bluttest in der Schwangerschaft, der genetische Auffälligkeiten wie Trisomie 21, 18 oder 13 beim Embryo erkennen soll. In Deutschland wird der Test seit mittlerweile zwei Jahren von den Krankenkassen bezahlt und die Nachfrage ist seitdem gestiegen. Das Netzwerk gegen Selektion durch PND und das Bündnis #NoNIPT sehen darin eine bedrohliche gesellschaftliche Entwicklung mit der Befürchtung, dass die Geburtenrate von Föten mit genetischen Anomalien zurückgeht, und rufen zum gesellschaftlichen Diskurs auf.

    Das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik äußert umfassende Kritik an der aktuellen Praxis von nicht-invasiven Pränataltests (wie dem NIPT) und anderen pränataldiagnostischen Untersuchungen:

    • Zentrale Kritikpunkte betreffen den fehlenden medizinischen Nutzen des NIPT, der primär zur Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch genutzt wird, im Gegensatz zu anderen diagnostischen Verfahren wie Ultraschall, die auch therapeutische Optionen eröffnen.
    • Die Finanzierung des NIPT durch die gesetzlichen Krankenkassen wird als problematisch angesehen, da sie gesellschaftlich als Empfehlung für den Test missverstanden werden könnte.
    • Besonders kritisch wird die oft unzureichende ärztliche Beratung vorab hervorgehoben, die weder ausreichend über den Zweck und die Grenzen des Tests (z. B. Fehlerquoten, kaum Therapieoptionen) noch über mögliche psychosoziale Unterstützungsangebote wie Peer-Beratung informiert. In der Beratung dominieren häufig die Informationen des Testherstellers. Schwangere Personen fühlen sich nach auffälligen Testergebnissen oft alleingelassen und werden ohne umfassende Begleitung an spezialisierte Diagnostikzentren weitervermittelt.
    • Hinzu kommt die Sorge, dass durch Tests wie dem NIPT gesellschaftlicher Druck entsteht, ein „normgerechtes“ Kind zu bekommen.
    • Im Rahmen der Tagung wurde zudem die mangelnde Aufarbeitung der eugenischen Geschichte der Medizin diskutiert, die sich in der heutigen Praxis subtil widerspiegle, und die Gefahr, dass ethische Standards durch wissenschaftliche Entwicklungen überholt werden.

    Hier kann man die Kritikpunkte zum NIPT im Detail nachlesen: Unsere Kritikpunkte –  #NoNIPT 

    Vorträge der Tagung im Überblick

    Die Vorträge und Aktivitäten boten vielfältige Einblicke in die aktuelle Diskussion um Pränataldiagnostik und NIPT. Claudia Heinkel thematisierte die Forderung nach einem Monitoring des NIPT und die Rolle des Netzwerks gegen Selektion in diesem Kontext. Anna Bergmann beleuchtete die historischen Kontinuitäten der Eugenik bis in die Gegenwart, während Marion Baldus Einblicke in internationale Regelungen zu NIPT und Pränataldiagnostik gab. Lisa Mangold zeigte die Verflechtung von Pränataldiagnostik mit kapitalistischen Strukturen auf, und Isabelle Bartram skizzierte Trends in der Molekularbiologie und Genomveränderung. Eine interaktive Ausstellung bot die Möglichkeit, gesellschaftliche Bewertungen individueller Entscheidungen zu reflektieren. Ergänzt wurde das Programm durch Kleingruppen, die Themen wie den Kommissionsbericht zu Schwangerschaftsabbruch, eugenische Aspekte in der Reproduktionsmedizin, Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen an Menschen mit Behinderungen, Kampagnen zur Rücknahme der Kassenfinanzierung des NIPT und ärztliche Beratung rund um Pränataldiagnostik diskutierten.

    Im Laufe des Jahres werden die Veranstalter:innen voraussichtlich auch eine zugängliche Zusammenfassung der Inhalte veröffentlichen. Tagungsdokumentationen – Netzwerk Pränataldiagnostik

    Studie: Ärztliche Beratung rund um Pränataldiagnostik

    Einer* der Vortragenden, Taleo Stüwe, Humanmediziner* und Teil des Gen-ethischen Netzwerks e.V., untersuchte in einer Studie die Beratungssituation von niedergelassenen Ärzt*innen im Kontext von Pränataldiagnostik (PND). Dabei analysierte er* auch das Bild von Behinderung, das in den Interviews deutlich wurde. Oft orientieren sich Ärzt*innen am defizitorientierten medizinischen Modell von Behinderung, was sich in Begriffen wie „Risikokollektiv“ oder „Missbildungsdiagnostik“ widerspiegelt. Stüwe hinterfragt, ob eine ergebnisoffene Beratung möglich ist, wenn sich Ärzt*innen hauptsächlich auf Informationen der Hersteller von Tests und Screenings beziehen. Auffällig war, dass Ärzt*innen vor auffälligen Befunden selten konkret über Behinderung sprechen – eine Ausnahme bildet Trisomie 21. Nach einem auffälligen Screening verweisen sie schnell an PND-Zentren, ohne umfassend zu informieren. Einige Ärzt*innen berichten, inzwischen aktiv frühzeitig das Thema Schwangerschaftsabbruch anzusprechen, da es in gängigen Broschüren von Screenings oft fehlt. Auffallend war, dass Ärzt*innen im Laufe des Gesprächs ihre Expert:innenrolle zu verlassen schienen und aus privater Perspektive zu antworten begannen, was man als Zeichen von Überforderung interpretieren könnte. Insgesamt kritisiert Stüwe, dass die Rahmenbedingungen eine professionelle und zeitintensive Beratung häufig nicht ermöglichen.

    Aktuelle Debatten in Deutschland

    Medizinische Indikation bei Spätabbrüchen

    Ein weiteres Thema war die aktuelle Diskussion um Spätabbrüche in Deutschland und die vermeintliche indirekte Fortsetzung der embryopathischen Indikation (= wenn beim Embryo oder Fötus schwerwiegende genetische oder organische Schäden diagnostiziert werden) über die medizinische Indikation (= wenn die Schwangerschaft das Leben oder die körperliche bzw. psychische Gesundheit der Schwangeren ernsthaft gefährdet). Obwohl die embryopathische Indikation in Deutschland formal abgeschafft ist, zeige sich laut Bericht einer Expert:innenkommission in der Praxis, dass sie weiterhin eine Rolle spielt und nicht gut reguliert ist. Ärzt*innen würden demnach gesundheitliche Notlagen von schwangeren Personen stärker gewichten, wenn eine Behinderung des Embryos bzw. Fötus vorliegt. Die Kommission hat eine genauere Ausformulierung der Kriterien für eine medizinische Indikation in dem Zusammenhang empfohlen.

    Aktueller Vorstoß: Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs

    Zudem war der aktuelle Vorstoß im Bundestag zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ein vielbesprochenes Thema bei der Tagung. Einige Expert*innen äußerten die Hoffnung, dass durch diese Regelung der Zugang für schwangere Personen auch bei einem möglichen politischen Rechtsruck besser abgesichert werden könnte. Andere hingegen zeigten sich besorgt, dass nach einer solchen rechtlichen Verankerung die feministische Unterstützung für weiterführende Debatten zu Pränataldiagnostik und Selektion über die Legalisierung hinaus nachlassen könnte.